Orinoco-Expedition, März 2017

10 Tage, insgesamt rund 600 Kilometer, fünf verschieden Flüsse: so lauteten die Eckdaten für unsere Orinoco-Expedition im März 2017. Auf unserer Strecke, die uns von Puerto Carreño bis zu den Mavecure-Bergen führte, liegen einige Highlights, die bereits Alexander von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts fasziniert hatten: darunter die beiden Stromschnellen Raudal de Atures und Raudel de Maipures. Die erste ist weltweit als die längste und breitste Stromschnelle bekannt (13,5 Kilometer), und die zweite wurde einst vom deutschen Naturforscher wegen ihrer Schönheit als Achtes Weltwunder bezeichnet.

Zu Beginn unserer Reise hatten wir am Zusammenfluss von Río Orinoco und Río Meta Gelegenheit mehrere dutzend Flussdelfine zu beobachten, die ausgelassen neben unserem Boot spielten. Weiter im Süden bereisten wir dann zunächst den Río Tuparro, ehe wir anschliessend den Flüssen Río Atabapo, Río Guaviare und Río Inirida folgten. Mit jedem Kilometer, den wir zurücklegten, konnten wir beobachten, wie die typische Orinoco-Vegetation, die sich durch weite Steppen kennzeichnet, in dichte Amazonas-Vegetation überging.

Unterwegs hatten wir nicht nur Gelegenheit, Puerto Inirida kennenzulernen, die quirrlige und geschäftige  Haupstadt der Guainia Provinz, sondern darüberhinaus besuchten wir auch den Nationalpark El Tuparro. Auf einer Fläche von 5480 km² leben dort u.a. mehr als 320 verschiedene Vogelarten, Flussdelfine, Brüll- und Kapuzineraffen,  das Orinoco-Krokodil und zahlreiche verschiedene Schlangenarten.

In der Nähe von Casuarito, einem kleinen Dorf am Ufer des Orinoco Flusses gelegen, konnten wir ausserdem verschiedene Felsmalereien und Felsgravuren bewundern. Laut unserem indigenen Guide dürften die Darstellungen 10.000 bis 14.000 Jahre alt sein. Genaue, wissenschaftliche Untersuchungen jedoch fehlen bis heute.

Eine Bildergalerie unserer Expedition findet Ihr hier:

 

Cerros de Mavecure: Magie, Geschichte und Natur

Die Mavecure-Berge (Cerros de Mavecure), rund 50 Kilometer im Süden von Puerto Inírida gelegen, gehören sicherlich zu den attraktivsten Reisezielen, die der Osten Kolumbiens anzubieten hat. Aus dem dichten Urwald, der sich endlos bis zum Horizont hinzieht, erheben sich geheimnisvoll die drei Tafelberge Pajarito, Mono und Mavicure. Mit 712 Metern ist der Cerro Pajarito der höchste Berg der Felsformation. Bis heute haben es lediglich zwei Expeditionen bis zum Gipfel geschafft: ein deutsches Kletter-Team, das im Jahr 1992 den umliegenden Urwald vom höchsten Punkt der unzugänglichen Region aus betrachten durfte, und eine argentinische Expedition, die den selben Erfolg erst vor kurzem im Februar 2015 feiern konnte. Einfacher zu besteigen ist der Cerro de Mavecure: ein durchschnittlich sportlicher Reisender schafft es, den Berg bis Mittags zu besteigen, vorausgesetzt er beginnt den Tag früh morgens mit den ersten Sonnenstrahlen.

Cerros de Mavecure
Cerros de Mavecure

Eine indigene Legende berichtet, dass der Cerro Pajarito seit Jahrhunderten von der hübschen Prinzessin Inírida bewohnt wird. Das Mädchen, in das sich einst alle jungen Männer der Region verliebten, nahm eines Tages ein aus Pflanzen zubereitetes Gebräu zu  sich, das ihr ein Verehrer angeboten hatte. Das Getränk, so glaubte der jugendliche Bewunderer, habe eine heimliche Zauberkraft, die ihm die ewige Liebe des bildhübschen Mädchens garantieren würde. Bei der Zubereitug jedoch täuschte er sich – der Trank wurde zu stark und als Inírida, ohne die Wirkung zu kennen, davon getrunken hatte, verlor sie die Kontrolle. In einem Kraftakt, den ihr niemand zugetraut hätte,  ran sie auf den Berg und verlor am Gipfel das Bewusstsein. Der unbedarfte Verehrer versuchte ihr zu folgen, musste jedoch feststellen, dass der Berg für Normalsterbliche nicht zu erklettern ist. Er zog sich traurig zurück. Als Inírida später erwachte, stellte sie fest, dass sie alleine und abgeschnitten vom Rest ihres Volkes war. Sie beschloss, den Berg fortan so zu bewohnen, als sei er ihr Schloss. Um sie zu erfreuen, widmen ihr die Angehörigen des indigenen Volkes Puinave bis heute hübsche und fröhliche Lieder, sobald sie in die Nähe des imposanten Berges kommen.

Eine Reise zu den Mavecure-Bergen startet in Puerto Inírida. Der rund 20.000 Einwohner zählende Ort liegt nur wenige Kilometer von der Grenze zu Venezuela entfernt und ist zugleich die Hauptstadt der Provinz Guainía. Wer sich vor der Weiterreise noch mit Proviant eindecken möchte, der findet in der geschäftigen Kleinstadt ausreichend Gelegenheit. Rund drei Stunden dauert dann die anschliessende Fahrt über den Inírida Fluss bis nach El Remanso. Das indigene Dorf ist der Ausgangspunkt für eine Expedition zu den Mavecure-Bergen. Hier kann man, nachdem man die Bewohner des Dorfes um Erlaubnis gebeten hat, sein Camp an einem idyllischen Sandstrand aufbauen. Von den Stromschnellen aus, die zwischen den Bergen liegen, lassen sich übrigens besonders leicht die berühmten Flussdelfine beobachten, die den abgelegenen Fluss bewohnen.

Für den Aufstieg zum Cerro de Mavecure bieten sich wegen der klimatischen Bedingungen zwei Möglichkeiten an: entweder man nützt die Kühle der frühen Morgenstunden, oder aber man macht sich nachmittags zwischen drei und vier Uhr auf den Weg. Vor- und Nachteile beider Optionen sind offensichtlich: morgens vermeidet man die drückende Hitze, die für die Gegend charakteristisch ist – nachmittags jedoch, wenn das Tierleben in vollem Gange ist, hat man eher die Möglichkeit Flora und Fauna zu geniessen. Für den Nachmittags-Aufstieg spricht aber natürlich auch noch die reizvolle Chance, einen unvergesslichen Sonnenuntergang über einer der schönsten Gegenden Kolumbiens beobachten zu können. Ein Erlebnis, das einem sicher lange in Erinnerung bleiben wird!

Zum Abschluss der Reise empfiehlt es sich, eine Wanderung durch die weiten Ebenen zu unternehmen, die die drei Mavecure-Berge umgeben. Die Region stellt das natürliche Habitat zahlreicher endemischer Pflanzen- und Tierarten dar. Gerade in der Umgebung des Dorfes El Remanso trifft man mit Leichtigkeit die Inírida-Blume (Flor de Inírida), die nur in der kolumbianischen Provinz Guainía wächst. Die krautartige Pflanze, die einen rot-weissen Blütenkopf hat und die bis zu einer Höhe von fast einem Meter wächst, gehört zu den Wahrzeichen der Region und kann – zumindest wird ihr das nachgesagt – bis zu einem Jahr ohne Wasser auskommen. Je nach Laune der Prinzessin Inírida, so der Glaube der indigenen Bevölkerung, ändert die Blume die Intensität ihrer Farben: leuchtend, wenn die Prinzessin gut gelaunt ist – und matt, wenn sie traurig ist. Zwar steht die Blume unter Naturschutz, allerdings wird sie in Puerto Inírida neuerdings auch zu kommerziellen Zwecken gezüchtet. Seit Generationen verstehen es die Angehörigen der indigenen Völker aus der Pflanze einzigartige Stücke regionalen Kunsthandwerks herzustellen. Wer sich am Ende der Reise nach einem adäquaten Andenken umsieht, der ist sicherlich nicht schlecht beraten, danach in El Remanso zu suchen.

Chiribiquete – Expedition ins Unbekannte

Chiribiquete ist nicht nur Kolumbiens grösster Nationalpark, sondern es ist zugleich auch eine der unzugänglichsten und unbekanntesten Regionen der Erde. Bericht einer zweiwöchigen Expeditionsreise.

Chiribiquete, el tubo

 

Mit insgesamt 2.782.354 Hektar ist die Ausdehnung des kolumbianischen Nationalparks Chiribiquete beinahe fünfmal so gross wie Luxemburg. Während in dem mitteleuropäischen Land allerdings immerhin rund eine halbe Million Menschen leben, ist der Nationalpark hingegen vollkommen unbewohnt. Vor mehreren tausend Jahren war das jedoch anders: mehr als 20.000 Felsmalereien, die Zeugnis von einer bis heute unbekannten Kultur ablegen, wurden in dem Gebiet in den neunziger Jahren von den Archäologen Thomas van der Hammen und Carlos Castaño entdeckt.

Damals bereisten die beiden Wissenschaftler per Helikopter die unzugängliche Region zwischen Rio Caquetá und San José del Guaviare  –  im Gegensatz zu van der Hammen und Castaño, sieht unser Plan  jedoch vor auf dem Landweg ins Herz des unbekannten Nationalparks zu gelangen. Mit Ausnahme einer handvoll Wissenschaftler haben das in der Vergangenheit nicht mehr als zehn bis fünfzehn Menschen geschafft.

Niedriger Wasserstand erschwert die Reise

Vorsichtig lenkt Rodolfo unser extrem leichtes Aluboot über den Río Caquetá. Bereits bei der Abfahrt aus Araracuara wird uns klar, dass sich unsere Reise vor allen Dingen durch eines auszeichnen wird: ausgesprochen niedriger Wasserstand – und die damit verbundenen Schwierigkeiten, weit genug in die unbekannte Region zu gelangen. Die Hitzewelle, unter der Kolumbien zu Beginn des Jahres 2016 leidet, macht auch vor dem Amazonasbecken nicht halt.

Von vorherigen Expeditionen nach Chiribiquete kenne ich den Caquetá Fluss und weiss deshalb, dass die vielen aus dem Wasser herausragenden Felsen ausserordentlich ungewöhnlich sind. Unsere Reise, die wir monatelang akribisch vorbereitet haben, kann deshalb auch vorzeitig beendet werden, sollte in einer der Stromschnellen, die unterwegs auf uns warten, der Wasserstand nicht ausreichen, um unser Boot darüberhinweg zu ziehen. Oder noch schlimmer: sollte das Boot durch einen Felsen irreperabel beschädigt werden und damit komplett verloren gehen.

Geplanter nördlichster Punkt der Expedition ist die Stromschnelle El Tubo, am Rio Cuñaré. Bis zu der Felsformation, durch die sich der Fluss durch eine knapp fünfzig Zentimeter schmale Verengung zwängt, werden es fast vier Tage sein. Rund ein dutzend Stromschnellen, die längste knapp einen Kilometer lang, müssen überwunden werden.

Zwei Stunden nach unser Abfahrt verlassen wir den Río Caquetá. Rodolfo steuert unser Boot mit sicherer Hand in den Río Yarí. Der Indigene, der dem Huitoto-Volk angehört, kennt die Flüsse rund um Araracuara wie seine Westentasche. Der Erfolg unserer Expedition wird massgeblich von ihm und Carlos, unserem zweiten indigenen Begleiter, abhängen. Sie werden für unsere Navegation genauso verantwortlich sein, wie auch für unsere Lebensmittelversorgung.

Am späten Nachmittag suchen wir einen geeigneten Lagerplatz. Weisse Sandstrände, die sich nicht vor denen an der Karibikküste Kolumbiens zu verstecken brauchen, finden sich an jeder zweiten oder dritten Flussbiegung. Während sich Rodolfo und Carlos um das Abendessen kümmern, baue ich unsere Zelte auf. Nach einem erfrischenden Bad im Río Mesay liegen wir bis spät nachts unter einem klaren Sternenhimmel  und lauschen den Erzählungen unserer beiden indigenen Begleiter.

Ein Wasserfall und unzählige Stromschnellen

Am nächsten Tag steht unsere erste Zerreissprobe auf dem Programm. Früh morgens, kurz nach unserer Weiterfahrt, gelangen wir an die Mesaca-Stromschnelle. Die Passage wäre eine Herausforderung für jeden Kanuten. Mit unserem vollbeladenen Boot jedoch ist sie so gut wie unbefahrbar. Wir vertäuen es und gehen zu Fuss am Ufer entlang.

Rodolfo und Carlos machen zunächst ein besorgtes Gesicht, entschliessen sich dann aber doch das Boot ohne Passagiere durch die Stromschnelle zu navegieren. Einen Teil unseres Gepäcks tragen wir flussaufwärts und schliessen uns kurz darauf wieder unseren beiden Guides an, die mit viel Geschick und Vorsicht das Aluboot durch das wild schäumende Wasser manövrieren.

Zwar kostet  uns die Stromschnelle knapp zwei Stunden, allerdings sind wir nochmal mit einem blauen Auge davongekommen. Anstatt fast eine halbe Tonne Gepäck zu Fuss mehrere hundert Meter flussaufwärts zu tragen, konnten wir uns zumindest diesmal das mühsame Schleppen unserer Ausrüstung sparen. Insgesamt 280 Liter Sprit, einen 20 PS-starken Aussenbordmotor, mehr als 100 Kilogramm Verpflegung, Hängematten, Zelte, Schlafsäcke und  einen umfangreichen Erste Hilfe – Kit, der selbst Anti-Schlangenserum beinhaltet, haben wir dabei.

Gegen Mittag machen wir Rast an einer schattigen Flussbiegung, die von unzähligen Flussdelfinen behaust wird. “La Cueva del Bufeo – Die Höhle des Delfins” nennen unsere beiden Begleiter den Ort. Und tatsächlich: nur wenige Minuten nachdem wir unseren Aussenbordmotor ausgeschaltet haben, lassen sich die ersten Delfine sehen. Verspielt schwimmen sie um unser Boot, verstecken sich unter Wasser und tauchen kurz darauf übermütig wieder auf. Es ist ein Naturschauspiel, das grossartiger kaum sein könnte.

Überhaupt: der Nationalpark Chiribiquete ist ein Paradies, wenn es um Tierbeobachtung geht. Unzählige Vogelarten, Anacondas, Affen, Tapire und Kaimane lassen sich leicht aus unmittelbarer  Nähe beobachten. Da die Region von Menschen unbewohnt ist, haben die Tiere so gut wie gar keine Scheu vor uns.

Am Wasserfall Jacameiya verbringen wir unsere zweite Nacht. Von früheren Expeditionen kenne ich den Ort, jetzt ist er für mich kaum wiederzuerkennen.  Wegen des niedrigen Wasserstandes ist der gewaltige, für gewöhnlich mehrere hundert Meter breite Katarakt zu einer Reihe kleiner Rinnsale geworden.

Am darauffolgenden Tag gelangen wir an die Stromschnelle La Culebra, die grösste Herausforderung während unserer Expedition. Geschätzt einen Kilometer ist die Passage lang, an der der Cuñare Fluss insgesamt vier bis fünf Meter abfällt. Bereits von weitem sehen wir, dass diesmal unsere gesamte Ausrüstung abgeladen werden und zu Fuss transportiert werden muss.

Wir benötigen mehrere Stunden, um die Stromschnelle zu überwinden. Ein ums andere Mal laufen wir die Strecke mit Gepäck ab, ehe wir schliesslich zu viert beginnen, unser Boot mühsam Meter für Meter durch das aufgebrachte Wasser zu ziehen. Immer wieder läuft es voll, droht zu kippen oder muss von uns mit letzter Kraft festgehalten und daran gehindert werden, flussabwärts zu verschwinden.

Die La Culebra – Stromschnelle ist ausgesprochen mühsam zu überwinden. Carlos und Rodolfo, beide bereits über 60 Jahre alt, sind kaum an Ausdauer und Widerstand zu übertreffen. Selbst die anstrengendsten Momente machen sie mit viel Humor und Geduld erträglich.  Ohne die beiden, so viel wird mir schnell klar, wäre unsere Expedition spätestens hier gescheitert.

El Tubo – ein Naturschauspiel der besonderen Art

Wir verbringen eine letzte Nacht an einem einsamen Sandstrand, ehe wir am nächsten Tag nach El Tubo gelangen. Es ist der Umkehrpunkt unserer Expedition. Von hier aus mussten wenige Wochen vor uns zwei polnische Abenteurer von der kolumbianischen Luftwaffe per Hubschrauber evakuiert werden. Einer von ihnen war von einer Schlange gebissen worden – ein Serum gegen das Gift des Tieres hatten sie nicht dabei. Zum Glück konnten sie jedoch per Satelliten-Telefon um Hilfe bitten.

El Tubo ist aber nicht nur wegen seiner Abgeschiedenheit ein aussergewöhnlicher Ort. Der Cuñare Fluss, stellenweise bis zu hundert Meter breit, zwängt sich hier durch einen knapp 50 Zentimeter breiten Kanal, der eine kunstvoll geformte Felsplattform in zwei gigantische Hälften teilt.

Am späten Nachmittag, nachdem wir unser Lager oberhalb des Flusses aufgebaut haben, setzen wir uns ans Ufer. Auf der gegenüberliegenden Seite, nur zehn bis zwanzig Meter von uns entfernt, sehen wir einen jungen Kaiman vorsichtig ins Wasser gleiten. Es dauert nicht lange und das Tier hat einen zappelnden Fisch im Maul.

Im Nationalpark Serranía de Chiribiquete, dessen Ausdehnung erst vor wenigen Jahren von der kolumbianischen Regierung erheblich vergrössert wurde, ist das ökologische Gleichgewicht auch heute noch in Ordnung.  Unter Umweltverschmutzung und aussernatürlichen Belastungen für Flora und Fauna, verursacht durch Menschenhand, leidet das Gebiet noch nicht. Wie lange das jedoch noch so bleiben wird ist ungewiss. Illegale Goldschürfer, verantwortlich für zahlreiche Umweltschäden,  findet man heute bereits am Río Caquetá. Hoffentlich ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis sie sich nach Chiribiquete durchschlagen.

Text und Foto: Oliver Schmieg

 

 

Expedition zum Chiribiquete Nationalpark – Reise in ein verlorenes Paradies

Mit einer Fläche von 2.8 Millionen Hektar ist der Chiribiquete-Nationalpark der grösste geschützte Naturbereich Kolumbiens. Die Region, etwa so gross wie Belgien, ist jedoch bis heute nahezu unbekannt. Aufzeichnungen eines Besuchs.

chiribiquete

Mit einer Taschenlampe überprüft Silverio ein letztes Mal unsere Essensvorräte: vier Kilogramm Fariña –eine Art Yukka-Mehl-, zwei Kilogramm Reis, ein Kilogramm Salz, drei große Flaschen Speiseöl, Kaffee, Panela, Milchpulver und ein paar Dosen Thunfisch. Dann bedeutet er Giovanni mit einem Nicken, das Boot auf den Caquetá Fluss hinauszusteuern.

Es ist vier Uhr morgens und obwohl die Temperaturen im kolumbianischen Amazonasbecken tagsüber bis auf über 40 Grad ansteigen können, ist es in den frühen Morgenstunden frisch. Während der Motor leise vor sich hintuckert, versuchen wir deshalb unsere Gesichter vor dem kalten Wind zu schützen. Die Lichter des kleinen Urwalddorfes Puerto Santander verschwinden schnell in den dichten Nebelschleiern, die sich in den frühen Morgenstunden über den Fluss legen.

Während langsam die Sonne aufgeht steuert Giovanni mit sicherer Hand unser Boot durch einige Stromschnellen. Zusammen mit dem Bora-Indianer Silverio ist er für unsere Expedition verantwortlich. Über die Flüsse Caquetá, Yarí, Mesay und Cuñaré wollen wir bis nördlich des Jacameya Wasserfalls vordringen. Hin- und zurück werden wir dafür insgesamt sechs Tage benötigen. Unsere einzigen Begleiter werden Flussdelfine, Anacondas, Papageien, Affen, Flussotter und Tapire sein.

Die Zivilisation werden wir weit zurücklassen, kein einziges Dorf werden wir während unser Reise zu sehen bekommen. Selbst wagemutige Siedler, sonst sogar in den entferntesten Winkeln des Amazonasbecken anzutreffen, gibt es in Chiribiquete keine – nur ein winzig kleines, einsam am  Himmel dahin ziehendes Flugzeug werden wir täglich um 16 Uhr sehen. Für uns wird es während der nächsten sechs Tage das einzige Zeichen menschlicher Existenz und menschlichen Wirkens sein.

Auf den Spuren vergessener Kulturen

Am späten Vormittag macht Giovanni das Boot an einer Felsgruppe fest, die aus den dunklen Wassern des Yarí Flusses herausragt. Die erste Station auf unserem Weg in den Chiribiquete Nationalpark ist erreicht: La Campana – die Glocke -, ein Felsen der beim Anschlagen wie eine gigantische Kirchturmglocke klingt.

Obwohl der Chiribiquete-Nationalpark heute unbewohnt ist, legen Felsmalereien und Petroglyphen im nördlichen Teil der Tafelberge Zeugnis davon ab, dass vor mehreren Hundert Jahren die Region besiedelt gewesen sein muss. Der kolumbianische Soziologe Roberto Franco Garcia recherchierte für sein Buch “Los Carijonas de Chiribiquete – Die Karijonas aus Chiribiquete” die Migrationsbewegungen der Indigenen aus dem Guyana Schild bis in die kolumbianischen Chiribiquete-Tafelberge.

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurden die Karijonas Opfer des Kautschukbooms. Die Handelsgesellschaft Peruvian Amazon Rubber Company,  besser bekannt als Casa Arana, erweiterte damals ihre Tätigkeiten bis an den Südrand Chiribiquetes. Tausende Eingeborene bezahlten die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen der peruanischen Kautschukgesellschaft mit dem Leben.

Während wir ein schnelles Mittagessen zubereiten, finden wir auf der Felsgruppe La Campana die ersten Anzeichen zurückliegender Kulturen: Petroglyphen sowohl abstrakter Art, wie auch zoomorphe Figuren. Es sollte während unserer Reise nicht der einzige Fundort jahrhundertealter, relativ unerforschter Felsgravuren oder Felsmalereien sein. Dutzende Fundorte mit rund 200.000 Darstellungen kennen Wissenschaftler mittlerweile in Chiribiquete und Experten gehen davon aus, dass in den tiefen Schluchten der Tafelberge weitere grafische Darstellungen auf ihre Entdeckung warten.

Stromschnellen und einsame Sandstrände

Am Nachmittag treffen wir auf unser erstes Hindernis, die La Masaca–Stromschnellen. Giovannis Gesichtsausdruck wechselt ins Ernsthafte, er lenkt das Boot vorsichtig an den östlichen Uferrand.  Chiribiquete will erobert werden. Schnell wird uns klar, weswegen eine Reise in den Nationalpark mühsam, aufwendig und vor allen Dingen nur mit Hilfe erfahrener Begleitung bewältigt werden kann. Dutzende Stromschnellen müssen überwunden werden, die je nach Jahreszeit und Wasserstand von “kaum erkennbar” bis hin zu “reißend und nahezu unüberwindbar” variieren können.

Im Moment zumindest gehört La Masaca der letzten Kategorie an. Unsere gesamte Ausrüstung, inklusive des Außenbordmotors, des Stromaggregats und 60 Gallonen Sprit, müssen abgeladen und zu Fuss am Uferrand flussaufwärts gebracht werden. Es wird Stunden dauern, bis wir unsere Reise fortsetzen können und Silverio macht sich deswegen Sorgen. Er denkt, wir könnten von der Nacht überrascht werden, ohne genügend Zeit zu haben unser Camp aufzuschlagen. Wir versuchen dennoch unser Glück.

Nachdem wir unser entladenes Boot zu Dritt mühsam an einem Seil  durch die Stromschnellen gezogen haben, setzen wir schließlich unsere Reise noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit fort. Nur 15 Minuten flussaufwärts finden wir einen geeigneten Sandstrand, um unser Lager aufzubauen. Mit Macheten verschaffen wir uns Zugang zum dichten Regenwald. Mühsam schneiden wir genügend Holz, um für unser Camp eine Überdachung zu bauen und ein kleines Lagerfeuer zu entfachen. Monsunartige Regenfälle sind im kolumbianischen Amazonasbecken keine Ausnahme, ein Dach über dem Kopf ist daher ein Muss.

Silverio und Giovanni brauchen danach nicht lange, um unser Abendessen zu fischen. Nur wenige Minuten nachdem der erste Angelhaken im Wasser landet, zappelt ein riesiger Wels an der Nylonschnur. Da es in der gesamten Region – zwischen dem Rio Caquetá im Sueden und dem Rio Guaviare im Norden – keinerlei menschliche Ansiedlungen gibt, sind für uns die Flüsse Yarí, Mesay und Cuñare, die wir befahren, die beste Nahrungsquelle.

Nach drei Tagen erreichen wir unseren “Umkehrpunkt”, den Wasserfall Jacameya. Bis zur Erweiterung des Nationalparks vergangenen August markierte der Wasserfall gerade mal die Südgrenze des gesetzlich geschützten Gebietes. Heute ist das anders, der etwa 200 Meter breite Katarakt ist fester Bestandteil des Nationlparks und ist zweifellos eines der lohnendsten Ziele.

Wir haben Glück – unsere Reise haben wir genau zu einem Zeitpunkt geplant, an dem zwar die Flüsse noch genügend Wasser führen, um bis zum Jacameya zu kommen, an dem aber andererseits die Regenzeit noch nicht begonnen hat. Andernfalls wäre der Sandstrand, der sich gegenüber des Wasserfalls befindet, bereits überschwemmt.

Zwischen einigen Bäumen spannen wir unsere Hängematten auf, selbstverständlich mit Blick auf das majestätische Naturschauspiel. Oberhalb Jacameyas verbreitert sich der Flusslauf, es folgt “Mil Islas – Tausend Inseln”. Hunderte kleiner Inseln –eventuell sogar tausend, so wie der Name sagt –  befinden sich im Flusslauf des Mesay. Niemand hat sich bislang die Mühe gemacht sie zu zählen.

Würde man weiter flussaufwärts fahren, käme man an einen überdimensionalen, runden Tafelberg, der “El Estadio – Das Stadium” genannt wird. Über einen Tunnel gelangt man ins Innere der Felsformation, die wie in einem gigantischen Fussballstadion zum Himmel hin geöffnet ist.

Die Menschen, die es in der Gegenwart bis dorthin geschafft haben, kann man wahrscheinlich an den Fingern einer Hand abzählen. Mein guter Freund Lucho, den ich bereits vor zehn Jahren am Rio Orinoco kennengelernt habe und der mir geholfen hat unsere Expedition vorzubereiten, ist einer von ihnen. “Chiribiquete ist für uns nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte, der darauf wartet erforscht zu werden und der bis ins 21. Jahrhundert hinein Hunderte, wenn nicht Tausende Geheimnisse birgt”, sagte er einmal, als er mich während unseres ersten Treffens am Rio Orinoco zu einigen Tepuys südlich von Puerto Carreño brachte. Ich stimme ihm darin vollkommen zu.