Expedition zum Chiribiquete Nationalpark – Reise in ein verlorenes Paradies

Mit einer Fläche von 2.8 Millionen Hektar ist der Chiribiquete-Nationalpark der grösste geschützte Naturbereich Kolumbiens. Die Region, etwa so gross wie Belgien, ist jedoch bis heute nahezu unbekannt. Aufzeichnungen eines Besuchs.

chiribiquete

Mit einer Taschenlampe überprüft Silverio ein letztes Mal unsere Essensvorräte: vier Kilogramm Fariña –eine Art Yukka-Mehl-, zwei Kilogramm Reis, ein Kilogramm Salz, drei große Flaschen Speiseöl, Kaffee, Panela, Milchpulver und ein paar Dosen Thunfisch. Dann bedeutet er Giovanni mit einem Nicken, das Boot auf den Caquetá Fluss hinauszusteuern.

Es ist vier Uhr morgens und obwohl die Temperaturen im kolumbianischen Amazonasbecken tagsüber bis auf über 40 Grad ansteigen können, ist es in den frühen Morgenstunden frisch. Während der Motor leise vor sich hintuckert, versuchen wir deshalb unsere Gesichter vor dem kalten Wind zu schützen. Die Lichter des kleinen Urwalddorfes Puerto Santander verschwinden schnell in den dichten Nebelschleiern, die sich in den frühen Morgenstunden über den Fluss legen.

Während langsam die Sonne aufgeht steuert Giovanni mit sicherer Hand unser Boot durch einige Stromschnellen. Zusammen mit dem Bora-Indianer Silverio ist er für unsere Expedition verantwortlich. Über die Flüsse Caquetá, Yarí, Mesay und Cuñaré wollen wir bis nördlich des Jacameya Wasserfalls vordringen. Hin- und zurück werden wir dafür insgesamt sechs Tage benötigen. Unsere einzigen Begleiter werden Flussdelfine, Anacondas, Papageien, Affen, Flussotter und Tapire sein.

Die Zivilisation werden wir weit zurücklassen, kein einziges Dorf werden wir während unser Reise zu sehen bekommen. Selbst wagemutige Siedler, sonst sogar in den entferntesten Winkeln des Amazonasbecken anzutreffen, gibt es in Chiribiquete keine – nur ein winzig kleines, einsam am  Himmel dahin ziehendes Flugzeug werden wir täglich um 16 Uhr sehen. Für uns wird es während der nächsten sechs Tage das einzige Zeichen menschlicher Existenz und menschlichen Wirkens sein.

Auf den Spuren vergessener Kulturen

Am späten Vormittag macht Giovanni das Boot an einer Felsgruppe fest, die aus den dunklen Wassern des Yarí Flusses herausragt. Die erste Station auf unserem Weg in den Chiribiquete Nationalpark ist erreicht: La Campana – die Glocke -, ein Felsen der beim Anschlagen wie eine gigantische Kirchturmglocke klingt.

Obwohl der Chiribiquete-Nationalpark heute unbewohnt ist, legen Felsmalereien und Petroglyphen im nördlichen Teil der Tafelberge Zeugnis davon ab, dass vor mehreren Hundert Jahren die Region besiedelt gewesen sein muss. Der kolumbianische Soziologe Roberto Franco Garcia recherchierte für sein Buch “Los Carijonas de Chiribiquete – Die Karijonas aus Chiribiquete” die Migrationsbewegungen der Indigenen aus dem Guyana Schild bis in die kolumbianischen Chiribiquete-Tafelberge.

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurden die Karijonas Opfer des Kautschukbooms. Die Handelsgesellschaft Peruvian Amazon Rubber Company,  besser bekannt als Casa Arana, erweiterte damals ihre Tätigkeiten bis an den Südrand Chiribiquetes. Tausende Eingeborene bezahlten die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen der peruanischen Kautschukgesellschaft mit dem Leben.

Während wir ein schnelles Mittagessen zubereiten, finden wir auf der Felsgruppe La Campana die ersten Anzeichen zurückliegender Kulturen: Petroglyphen sowohl abstrakter Art, wie auch zoomorphe Figuren. Es sollte während unserer Reise nicht der einzige Fundort jahrhundertealter, relativ unerforschter Felsgravuren oder Felsmalereien sein. Dutzende Fundorte mit rund 200.000 Darstellungen kennen Wissenschaftler mittlerweile in Chiribiquete und Experten gehen davon aus, dass in den tiefen Schluchten der Tafelberge weitere grafische Darstellungen auf ihre Entdeckung warten.

Stromschnellen und einsame Sandstrände

Am Nachmittag treffen wir auf unser erstes Hindernis, die La Masaca–Stromschnellen. Giovannis Gesichtsausdruck wechselt ins Ernsthafte, er lenkt das Boot vorsichtig an den östlichen Uferrand.  Chiribiquete will erobert werden. Schnell wird uns klar, weswegen eine Reise in den Nationalpark mühsam, aufwendig und vor allen Dingen nur mit Hilfe erfahrener Begleitung bewältigt werden kann. Dutzende Stromschnellen müssen überwunden werden, die je nach Jahreszeit und Wasserstand von “kaum erkennbar” bis hin zu “reißend und nahezu unüberwindbar” variieren können.

Im Moment zumindest gehört La Masaca der letzten Kategorie an. Unsere gesamte Ausrüstung, inklusive des Außenbordmotors, des Stromaggregats und 60 Gallonen Sprit, müssen abgeladen und zu Fuss am Uferrand flussaufwärts gebracht werden. Es wird Stunden dauern, bis wir unsere Reise fortsetzen können und Silverio macht sich deswegen Sorgen. Er denkt, wir könnten von der Nacht überrascht werden, ohne genügend Zeit zu haben unser Camp aufzuschlagen. Wir versuchen dennoch unser Glück.

Nachdem wir unser entladenes Boot zu Dritt mühsam an einem Seil  durch die Stromschnellen gezogen haben, setzen wir schließlich unsere Reise noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit fort. Nur 15 Minuten flussaufwärts finden wir einen geeigneten Sandstrand, um unser Lager aufzubauen. Mit Macheten verschaffen wir uns Zugang zum dichten Regenwald. Mühsam schneiden wir genügend Holz, um für unser Camp eine Überdachung zu bauen und ein kleines Lagerfeuer zu entfachen. Monsunartige Regenfälle sind im kolumbianischen Amazonasbecken keine Ausnahme, ein Dach über dem Kopf ist daher ein Muss.

Silverio und Giovanni brauchen danach nicht lange, um unser Abendessen zu fischen. Nur wenige Minuten nachdem der erste Angelhaken im Wasser landet, zappelt ein riesiger Wels an der Nylonschnur. Da es in der gesamten Region – zwischen dem Rio Caquetá im Sueden und dem Rio Guaviare im Norden – keinerlei menschliche Ansiedlungen gibt, sind für uns die Flüsse Yarí, Mesay und Cuñare, die wir befahren, die beste Nahrungsquelle.

Nach drei Tagen erreichen wir unseren “Umkehrpunkt”, den Wasserfall Jacameya. Bis zur Erweiterung des Nationalparks vergangenen August markierte der Wasserfall gerade mal die Südgrenze des gesetzlich geschützten Gebietes. Heute ist das anders, der etwa 200 Meter breite Katarakt ist fester Bestandteil des Nationlparks und ist zweifellos eines der lohnendsten Ziele.

Wir haben Glück – unsere Reise haben wir genau zu einem Zeitpunkt geplant, an dem zwar die Flüsse noch genügend Wasser führen, um bis zum Jacameya zu kommen, an dem aber andererseits die Regenzeit noch nicht begonnen hat. Andernfalls wäre der Sandstrand, der sich gegenüber des Wasserfalls befindet, bereits überschwemmt.

Zwischen einigen Bäumen spannen wir unsere Hängematten auf, selbstverständlich mit Blick auf das majestätische Naturschauspiel. Oberhalb Jacameyas verbreitert sich der Flusslauf, es folgt “Mil Islas – Tausend Inseln”. Hunderte kleiner Inseln –eventuell sogar tausend, so wie der Name sagt –  befinden sich im Flusslauf des Mesay. Niemand hat sich bislang die Mühe gemacht sie zu zählen.

Würde man weiter flussaufwärts fahren, käme man an einen überdimensionalen, runden Tafelberg, der “El Estadio – Das Stadium” genannt wird. Über einen Tunnel gelangt man ins Innere der Felsformation, die wie in einem gigantischen Fussballstadion zum Himmel hin geöffnet ist.

Die Menschen, die es in der Gegenwart bis dorthin geschafft haben, kann man wahrscheinlich an den Fingern einer Hand abzählen. Mein guter Freund Lucho, den ich bereits vor zehn Jahren am Rio Orinoco kennengelernt habe und der mir geholfen hat unsere Expedition vorzubereiten, ist einer von ihnen. “Chiribiquete ist für uns nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte, der darauf wartet erforscht zu werden und der bis ins 21. Jahrhundert hinein Hunderte, wenn nicht Tausende Geheimnisse birgt”, sagte er einmal, als er mich während unseres ersten Treffens am Rio Orinoco zu einigen Tepuys südlich von Puerto Carreño brachte. Ich stimme ihm darin vollkommen zu.